Hannahs Spätfolgen der Krebstherapie


Spätfolgen der Krebstherapie

Hannah erkrankt mit gerade mal 14 Jahren an Leukämie. Sie wird geheilt, kämpft jedoch seit fünf Jahren mit den Spätfolgen der Krebstherapie.

Ein gemütliches Einfamilienhaus in einer Kleinstadt nahe Nürnberg. Während draußen langsam der Winter Einzug hält, verbreitet drinnen ein knisterndes Holzfeuer wohlige Wärme. Am Kamin sitzt Hannah und schaut gedankenverloren auf ihr Tablet. Sie schreibt an einem Drehbuch mit dem Arbeitstitel „Recovery“, zu Deutsch Genesung. Es ist ihr Lebensthema.

„Ich war voller Tatendrang“, erzählt die heute 20­-Jährige, „nach und nach bekam ich mehr Freiheiten von meinen Eltern, unternahm viel mit Freunden, eigentlich der Beginn einer schönen Lebensphase.“ Es ist Anfang Oktober 2013. Zurück aus den Sommerferien beginnt das neue Schuljahr für den sportlichen Teenager nur schleppend. Sie ist häufig krank. Erst Grippe, dann hat sie ständig Fieber und ihre Knochen schmerzen. Zwei Tage wird sie im Krankenhaus gründlich untersucht.

Hannah am Kamin

„Die Symptome kamen und gingen wieder und es war schnell klar, dass irgendetwas nicht stimmt mit meinem Immunsystem.“

Hannah ist an Leukämie erkrankt

Die Diagnose kam kurz vor Weihnachten. „Davon hatte ich noch nie in meinem Leben gehört. Ich wusste zunächst nicht, dass das Krebs ist.“ Hannah wird sehr traurig. Krebs, das heißt, sie kann nicht mehr so weiterleben wie zuvor. Stillstand. Ausgerechnet jetzt, wo sie den nächsten Surfkurs plant und das Klettern für sich entdeckt hat.

Das folgende Jahr verbringt die 14-­Jährige die meiste Zeit im Krankenhaus. Chemotherapie in mehreren Blöcken, zunächst als Infusion, dann in Tablettenform. Sie darf nur tageweise nach Hause. An viel mehr erinnert sie sich nicht. „Es ist wie ein riesiges schwarzes Loch, ein Blackout“, beschreibt sie rückblickend. Ihre Freunde wird sie in nächster Zeit nicht treffen können. In deren sorgenvolle Gesichter blicken, das erträgt sie nur schwer. Lieber zieht sie sich zurück und schreibt Geschichten. Die Fantasie ist neben ihrer Familie ein wichtiger Anker während der langen und mühevollen Krebstherapie.

Krebs: Geheilt aber nicht gesund

Im Anschluss an den fast einjährigen Klinikaufenthalt macht Hannah mit ihrer Familie eine Kur auf der Nordseeinsel Sylt. Dort lernt sie gleichaltrige Betroffene kennen und kann sich wieder ein wenig dem Leben um sie herum öffnen. Sie besucht Sportgruppen und philosophiert mit anderen Mädchen darüber, wie sie ihre Haare tragen sollen. „Ich war zuversichtlich und freute mich, bald endlich wieder ein normales Leben zu führen.“

Doch die Krebstherapie hinterlässt Spuren. Das regelmäßige Laufen am Strand fällt ihr von Tag zu Tag schwerer. Jeder Schritt verursacht heftige Schmerzen in der Hüfte. Die Ärzte in der Kurklinik mutmaßen, Hannah hätte sich körperlich überanstrengt. Doch sie liegen falsch.

Hannah und Freundin am Kamin

Zurück in Nürnberg, stellen die Spezialisten der Kinderklinik fest, dass Hannahs Hüftgelenke nicht mehr stabil sind. Die Chemotherapie habe ihre Knochen zu sehr beeinträchtigt. Das bedeu­tet: Hannah muss wieder ins Krankenhaus und operiert werden. Ein schlimmer Rückschlag für das Mädchen. In die Schule gehen wie ihre Altersgenossen, in den Alltag zurückzukehren – das ist wieder nicht möglich.

Spätfolgen der Krebstherapie

Sie übersteht die Operation an der Hüfte gut und muss erstmal an Krücken laufen. Dabei werden die Schultern enorm belastet und Schmerzen bleiben nicht aus. Sie besucht mit ihren Eltern einen Spezialisten in Neustadt an der Aisch. Dieser rät ihnen dringend zu einer weiteren Operation, da nun auch Hannahs Schultergelenke nach und nach brechen. Prothesen sollen die Schultern stabilisieren und für eine gute Beweglichkeit der Gelenke sorgen. „Wann ist die Operation nochmal gewesen? Da komme ich immer ein wenig durchein­ander.“ Hannah schaut in ihren Prothesen­-Pass. „Das war 2016.“

Sie bleibt zu Hause und geht erst wieder zur Schule, als sich der Körper an die Prothesen gewöhnt hat und sie den Rollstuhl gegen Krücken tauschen kann. „Es war sehr schwer für mich, auf andere angewiesen zu sein. Ich fühlte mich körperlich wie eine sehr alte Frau.“ Immerhin war sie nicht mehr allein. Enge Freunde wie Christina, die sie schon aus Grundschultagen kennt, besuchen sie zu Hause und geben ihr das Gefühl, irgendwie doch ein Teil ihres Teenagerlebens zu sein.

Hannahs Krebstherapie

Spuren an Körper und Seele

Was sie körperlich noch nicht schafft, will Hannah mit geistiger Anstrengung ausgleichen. „Ich habe extrem für die Schule gelernt, bis zur völligen Erschöpfung.“ Sie treibt sich immer weiter an, doch der Preis ist hoch. „Am Ende fühlte ich mich komplett ausgebrannt.“

Seit der Krebsdiagnose sind zwei Jahre vergangen. Hannah steht kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Zwar geht es ihr körperlich besser und sie muss nicht mehr an Krücken laufen, doch häufen sich mit Beginn der Oberstufe psychische Störungen. Nachts bekommt sie plötzlich Angst und kann nicht mehr schlafen. Panik und Angstzustände werden in den letzten drei Schuljahren zu ihren ständigen Begleitern. Hannah sucht die Schuld bei sich und denkt nicht an die kräftezehrende Krebstherapie als Verursacher ihrer seelischen Probleme.

„Das waren Situationen, mit denen ich damals nicht gerechnet hatte. Ich dachte: Bin ich jetzt verrückt?“

Im Winter 2018 wird Hannah in der Frankenalb­-Klinik Engelthal behandelt, einer Einrichtung für Patienten mit psychosomatischen Problemen. Hier wird sie zum ersten Mal eingehend über die Zeit während der Krebstherapie befragt. „Die Psychologin meinte, dass es nicht üblich sei, eine so große Gedächtnislücke zu haben.“

Posttraumatische Belastungsstörungen

Die Diagnose: ein Trauma und posttraumatische Belastungsstörungen, die auf die Krebserkrankung zurückzuführen seien und auch den Gedächtnisverlust erklärten. „Letztendlich musste ich mir das eingestehen: Die Zeit während der Krebstherapie hatte ich komplett verdrängt.“

Krebs-Nachsorge in Deutschland

Spuren an Körper und Seele

In Deutschland erkranken jährlich rund 2.000 Kinder und Jugendliche an Krebs. Bereits seit 1980 werden die Krankheitsdaten dieser Kinder, sofern die Eltern zustimmen, im Kinderkrebsgister an der Universitätsmedizin Mainz gespeichert. Dazu gehören detaillierte Angaben über Krankheitsverläufe und Therapiemaßnahmen. Das Ziel der Ärzte: effektivere und besser verträgliche Therapien entwickeln. Mit Erfolg: Kam die Diagnose Krebs bei fast jedem Kind damals einem Todesurteil gleich, überleben heute vier von fünf der jungen Patienten ihre Erkrankung.

Damit gibt es heute immer mehr Langzeitüberlebende nach Krebs, aber auch weitere Herausforderungen. Durch die systematische Nachbeobachtung und vollständige Datenerfassung durch das Mainzer Kinderkrebsregister soll der Bedarf von ehemaligen Krebspatienten dokumentiert und die Versorgung von Langzeitüberlebenden in der Praxis verbessert werden.

Studie: Psychosoziale Spätfolgen

Projekte wie die von der Deutschen Krebshilfe geförderte Studie „Psychosoziale Spätfolgen, Gesundheitsverhalten und Nachsorge von langzeitüberlebenden Patienten nach Krebs im Kindes-­ und Jugendalter“ an der Universitätsmedizin Mainz tragen hierzu ebenfalls bei. Es ist ein gemeinsames Projekt mehrerer Fachdisziplinen der Mainzer Universitätsmedizin. Unter der Leitung von Professor Dr. Manfred E. Beutel werden psychosoziale Belastungen und Veränderungen von ehemaligen Krebspatienten erhoben und Faktoren erforscht, die ihre Versorgung ganzheitlich und langfristig verbessern sollen.

Die Studie wird über einen Zeitraum von drei Jahren mit rund 314.700 Euro gefördert.

Hannah nimmt ihre Zukunft selbst in die Hand

Seit dem Herbst 2019 studiert Hannah Medizin an der Friedrich-Alexander­-Universität-Erlangen-Nürnberg. Sie denkt darüber nach, einmal Onkologin zu werden, um andere Krebspatienten besser auf die Folgen der Krebstherapie vorzubereiten.

„Ich weiß das Leben zu schätzen und dabei bin ich gerade erst 20 Jahre alt.“

Hannah weiß das Leben zu schätzen

Interview: Nachsorge Verbessern

Prof Dr Manfred E Beutel

Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz.

Leiden junge Erwachsene wie Hannah anders an einer Krebserkrankung als ältere Betroffene?

„Ja, das vergleichsweise frühe Auftreten einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter kann mit besonderen Schwierigkeiten einhergehen. Die Erkrankung und ihre Behandlung können die altersgerechte Entwicklung stören. Dazu gehört das Erreichen wichtiger Meilensteine der schulischen Bildung, aber auch sozialer Beziehungen. Tritt die Krebserkrankung später im Leben auf, ist sie selbstverständlich auch ein herausforderndes Lebensereignis, aber sie trifft einen in seiner beruflichen und privaten Biografie und in seiner Identität schon viel mehr gefestigten Menschen.“

In einer aktuellen Studie untersuchen Sie die psychosozialen Spätfolgen von Krebsüberlebenden. Mit welchem Ziel?

„Solche Projekte sind wichtig, um zu sehen, wie das aktuelle Versorgungssystem Langzeitüberlebenden gerecht wird. In unserem Projekt sehen wir den Bedarf einer umfassenden Langzeitnachsorge zur Prävention von Spätfolgen.“

Woran machen Sie das fest?

„Bisher zeigt die Studie, dass nur ein Drittel der befragten Langzeitüberlebenden angab, sich in regelmäßiger Langzeitnachsorge zu befinden. Diese Zahl finden wir alarmierend. Sie weist darauf hin, dass Angebote in diesem Bereich unbedingt weiter ausgebaut und bekannter gemacht werden müssen.“

Mit Krebs leben

Wie lebt es sich mit und nach einer Krebserkrankung? Wann kann man zum gewohnten Alltag zurückkehren? Was lässt sich gegen belastende Symptome und Therapiefolgen tun? Antworten auf diese Fragen bieten Ihnen unsere kostenfreien Informationsmaterialien.

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